Fremde neue Welt
und die sexuelle Revolution entfacht haben
Fremde neue Welt
und die sexuelle Revolution entfacht haben
Artikel-Nr | 865207700 |
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ISBN | 978-3-98665-077-3 |
Verlag | Verbum Medien |
Seiten | 254 |
Erschienen | 10.11.2023 |
Artikelart | Softcover, 13 x 19 cm |
Die Welt, in der wir leben, ist kompliziert und vielen Menschen fremd geworden. Immer mehr Gruppen, von denen wir früher wenig bis nichts hörten, drängen in die Öffentlichkeit, um für ihre Anliegen zu werben oder gar der Gesellschaft vorzuschreiben, was sie zu tun hat. Wie kann der Erfolg dieser sogenannten Identitätspolitik erklärt werden? Und wie sollte die Kirche darauf reagieren?
Der Historiker Carl R. Trueman zeigt in diesem Buch auf verständliche Weise, welche Einflüsse unsere Kultur in die Richtung eines "expressiven Individualismus" bewegt haben. Er skizziert die Geschichte des westlichen Denkens von der Romantik an bis hin zur heutigen Identitätspolitik, die stark durch das Thema Sexualität eingefärbt ist. Das hat enorme Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir Religion, Redefreiheit und uns selbst verstehen.
Carl Trueman fasst in diesem Buch wesentliche Punkte seines großen Werkes "Der Siegeszug des modernen Selbst" (2022) zusammen. Der Frage, wie wir Christen auf die Revolution des Selbst reagieren sollten, schenkt er besonders im letzten Kapitel viel Aufmerksamkeit. Eltern, Studenten, Lehrer, Pastoren oder einfach neugierige Christen können sich so mit den enormen Umwälzungen in unserer fremden neuen Welt vertraut machen und lernen, angemessen darauf zu reagieren.
"Dieses Buch sollten alle lesen, die die rapiden Veränderungen verstehen wollen, die sich in unserer Gesellschaft gegenwärtig vollziehen." - Ulrich Parzany in seinem Geleitwort
Carl Trueman ist Professor für Biblische und Religiöse Studien am Grove City College (USA). Er ist freier Redakteur bei First Things, ein geschätzter Kirchenhistoriker und arbeitet als Wissenschaftler am Ethics and Public Policy Center. Trueman hat zahlreiche Bücher verfasst oder herausgegeben.
Titel des englischen Originals: The Rise and Triumph of the Modern Self
Autor: | Carl R. Trueman |
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08.03.24 20:18 | Marcel
Die Stunde von Nietzsches „tollem Menschen“ hat geschlagen!
Einleitung:
Der Kirchenhistoriker Carl R. Trueman führt in seinem neuen Buch „Fremde neue Welt“ auf ca. 250 Seiten brillant aus, dass all die (sexuellen) Verirrungen unserer Zeit nicht von ungefähr kommen, sondern Ausprägungen des modernen Selbst sind. Es geht in dem Buch darum, wie das moderne Selbst zu dem werden konnte, was es heute ist: eine gänzlich von der Sexualität bestimmte psychologische Identität, die als durch und durch formbar gilt. Unter diesem Aspekt ist für Trueman die Transgender-Ideologie nur der vorläufige Kulminationspunkt des „expressiven Individualismus“ und eines Menschenbildes, dem jede transzendente Referenz und metaphysische Verankerung abhandengekommen ist. Und dieses Selbst ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat eine lange Ideengeschichte, der Trueman nachspürt.
Das Buch ist eine Kurzfassung des ca. ein Jahr zuvor auf Deutsch erschienen Buches „Der Siegeszug des modernen Selbst“. Um es vorwegzunehmen: Ich meine, dass dem Autor die quantitative, aber auch didaktische Reduktion gelungen ist und dass das Schlusskapitel, welche Schlussfolgerungen für Christen und die Gemeinde Jesu aus der dramatischen Entwicklung zu ziehen sind, sogar an Tiefe gewonnen hat.
Inhalt:
Ausgehend von der Annahme, dass auch Theorien für eine Gesellschaft prägend sind, wenn die Menschen, die so geprägt sind, sie nicht selbst gelesen haben und sich ihres Einflusses nicht bewusst sind, also ausgehend von Charles Taylors Begriff des „sozialen Vorstellungsschemas“, analysiert Trueman, welchen Einfluss v. a. Rousseau, die Romantiker, Hegel, Marx, Nietzsche, Freud und Reich gehabt haben auf die Entstehung der „fremden neuen Welt“, die v. a. gekennzeichnet ist durch die Idee eines „psychologischen Selbst“ und „expressiven Individualismus‘“. Im Zuge dieser Entwicklung wurden zunächst die Gesellschaft als das das Individuum korrumpierende Element ausgemacht, dann das Gefühl ins Zentrum verlegt, schließlich die Institutionen der Unterdrückung verdächtigt, Moral zur Geschmacksfrage erklärt, das sexuelle Begehren ins Zentrum der Identität gerückt, die traditionelle, monogame Familie der sozialen Unterdrückung verdächtigt und zuletzt die Sexualität zum Politikum erklärt.
Neben der Philosophie misst Trueman der Technik, Popkultur und auch Soziologie einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung bei hin zur Vorstellung, dass die Realität formbar ist. Auch infolgedessen seien die „heiligen Ordnungen“ (Rieff) Kirche, Familie und Nation weiter geschliffen worden. Die Eliten auf der rechten wie linken Seite des politischen Spektrums hätten die Verbindung zur Vergangenheit gekappt und sogar Unternehmen sich die LGBTQ+-Agenda zu eigen gemacht. Weil der Mensch als Person auf Gemeinschaft und Anerkennung angelegt ist, traditionelle Formen der Gemeinschaft aber zerstört worden seien, suche er (v. a. vermittels des Internets) nach neuen Formen der Gemeinschaft. Und die neuen Angebote stifteten mit Hilfe von Themen wie „Anti-Rassismus“, „Geschlecht“ oder „Sexualität“ Gemeinschaft und versprächen Zugehörigkeit.
Präzise zeichnet Trueman nach, wie zunächst Lesben und Schwule wider Erwarten zusammenfanden, indem sie einen gemeinsamen Opferstatus gegenüber der heteronormativen Gesellschaft proklamierten, dabei aber an der Binarität der Geschlechter festhielten, ebenso wie de Beauvoir, die zwischen sozialem und biologischem Geschlecht unterschied, das biologische Geschlecht aber nicht zur Disposition stellte. Dass auch das biologische Geschlecht für formbar gehalten werde, habe erst die Technik und die „innere Psychologie“ möglich gemacht. Dies sei bis heute ein großer Streitpunkt innerhalb des Feminismus, wo ein Teil an der Binarität der Geschlechter festhalte und den Transfrauen vorwerfe, eine klischeehafte Rolle lediglich zu spielen.
Trueman kommt auf Singer zu sprechen, nach dessen utilitaristischer Logik das Personsein nur zugesprochen bekommt, wer sich seiner selbst bewusst ist, wodurch ungeborenes, frühkindliches, behindertes oder von Demenz betroffenes menschliches Leben nicht länger als schutzbedürftig gilt und seine Tötung legitimiert wird.
Mit der Ausformulierung der Yogyakarta-Prinzipien habe man die freie Wahl der sexuellen Identität in den Rang eines Menschenrechts erhoben und mit dem Recht auf Familiengründung verknüpft. Am Beispiel von Ryan T. Anderson, dem Trueman neben Ulrich Parzany eines der beiden Vorworte eingeräumt hat, lässt sich erahnen, was auf Menschen zukommt, die diesem Menschenbild widersprechen. So wurde der Verkauf von Andersons Buch durch Amazon verboten, wie Trueman zu berichten weiß, während Mao, Stalin und Hitler, wie Trueman pointiert schreibt, weiter verlegt werden dürften. Die Redefreiheit sieht Trueman durch die grassierende „cancle culture“ massiv bedroht. Und auch die Ausweitung des Gewaltbegriffs aufs Psychologische bedrohe die Redefreiheit, weil nun auch die Sprache gewaltsam sein könne und der Überwachung bedürfe. Nachdem auch der Supreme Court den traditionellen Ehebegriff verworfen habe, liefen Vertreter des jüdisch-christlichen Ehebegriffs Gefahr, für irrationale Fanatiker gehalten zu werden. Die traditionelle christliche Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde sei nicht mehr tragfähig, weil sich der moderne Mensch mit seiner sexuellen Identität ja identifiziere. Wer diese Identität nicht anerkenne, verletze die Gefühle seines Gegenübers. Und auf diese Weise gerate auch die traditionelle Definition von Religionsfreiheit massiv in Gefahr. Trueman hält Marcuses „repressive Toleranz“ für Realität geworden, nach der nur noch Meinungen zulässig sind, die genehm sind und nicht den unterstellten Unterdrückungszusammenhang verstärken.
Pointiert weist Trueman auf das Paradoxon hin, dass die radikale individuelle Freiheit inzwischen zu einer krass autoritären gesellschaftlichen Kontrolle geführt hat und sich hinter der Rhetorik der Vielfalt im Grunde die Forderung nach ideologischer Gleichförmigkeit versteckt.
Trueman baut Brücken, wo es nur geht, und arbeitet noch klarer als im ersten Buch zum Thema heraus, wo der christliche Glaube durchaus Gemeinsamkeiten zum expressiven Individualismus aufweist. Trueman erinnert an Rousseaus Zeitgenossen Jonathan Edwards und dessen „Religious Affections“. Das NT fordere ebenfalls den persönlichen Glauben als Reaktion auf das Evangelium. Auch die Universalität der Menschenwürde und die Psyche zu betonen, sei ein berechtigtes Anliegen. Sogar Augustinus habe in seinen „Bekenntnissen“ Introspektion betrieben, um dann aber zu den großen Wahrheiten Gottes vorzudringen. Versöhnlich ist er auch, wenn er schreibt, dass die Perspektive der Minderheiten in der Geschichtswissenschaft durchaus ihre Berechtigung habe, sofern der traditionelle Lehrplan darum ergänzt werde und der Kanon nicht geschliffen werde.
Gleichwohl ist er sich des Umstandes bewusst, dass wer sich heute zu seinen christlichen Überzeugungen bekennt, kein anständiger Teil einer Gesellschaft mehr sein kann, die die Ideen vom plastischen Selbst verinnerlicht hat, und als Bedrohung für die Zivilgesellschaft gilt. Christen würden auf diese Weise zu Fremden in der „fremden neuen Welt“.
Er warnt zugleich vor einer pharisäischen, herablassenden Schau der Christen auf ihre Zeitgenossen und fordert dazu auf, sich zu prüfen, wo auch die Gemeinde Jesu bereits von der psychologisch-therapeutischen Gesellschaft geprägt ist – sich Christen etwa bei der Bewertung (sexual)ethischer Fragen oder des modernen Scheidungsrechts ebenfalls vom Gefühl leiten lassen oder sich ihre Ortsgemeinde statt nach theologischen Gesichtspunkten unter dem Gesichtspunkt des Glücks aussuchen. Sich der eigenen Verstrickung mit dem Zeitgeist bewusst zu werden mache demütig.
So wichtig die Beschäftigung mit dem Zeitgeist sei, dürfe die Gemeinde Jesu aber thematisch nicht verengen, und Trueman rät, anhand der bewährten Bekenntnisse oder Katechismen den ganzen Ratschluss Gottes, seine Taten in der Vergangenheit ebenso wie seine Verheißungen für die Zukunft, zu verkündigen und dies auch im Lobpreis zu beachten.
Auch in diesem Buch rät er zu einer Wiederentdeckung des Naturrechts und einer „Theologie des Leibes“, schließt seine Ausführungen aber anders als im Kompendium mit einem eschatologischen Ausblick und der christlichen Hoffnung auf die „große Vollendung“ und die Hochzeit des Lammes.
Kritische Würdigung:
Die Kürzung gegenüber dem 500seitigen Kompendium zum Thema erfolgt v. a. dadurch, dass Trueman die Konzepte von Charles Taylor (Philosoph), Philip Rieff (Soziologe) und Alasdair MacIntyre (Ethiker) kürzt oder weglässt. Am ausführlichsten schildert er noch Taylors „soziales Vorstellungsschema“, seinen „expressivem Individualismus“ und seine „Politik der Anerkennung“, während dessen „Mimesis und Poiesis“ wegfällt. Das ist schade, weil die alten Begriffe auf den Punkt bringen, wobei es in der Debatte geht: Ist der Mensch Geschöpf, das sich auf eine objektive Moral bezieht, oder selbst Schöpfer, der sich seine subjektive Moral selbst erschafft? Die Überlegungen Rieffs zum „psychologischen Menschen“ und „therapeutischen Selbst“ werden ebenso wie seine Überlegungen zu den „heiligen Ordnungen“ gestrafft wiedergegeben. Gänzlich ausgelassen gegenüber dem Kompendium werden die Überlegungen MacIntyre zum „Emotivismus“. Auch die Einbettung in Rieffs Überlegungen zu den drei Welten und vier Zeitaltern lässt Trueman weg. Die Paraphrase der Vordenker des modernen Selbst strafft er ebenfalls, und Darwin fällt ganz heraus, während Marcuse und Sartre nur noch erwähnt werden. Truemans Hauptgedankengang bleibt aber dennoch erhalten und nachvollziehbar.
Trueman führt auch in diesem Buch kenntnisreich aus, wie sehr das moderne Selbst neben Ideen seine Existenz auch der Technik verdankt. Deswegen wäre Trueman m. E. der richtige Mann, sich auch mit dem Thema „Transhumanismus“ eingehender zu befassen, der die Vorstellung vom homo technicus weiter auf die Spitze treibt und den Menschen durch Technik und smarte Drogen weiter entgrenzen und sogar unsterblich machen will, wie es Aldous Huxley in seinem Buch „Schöne neue Welt“ so hellsichtig hat kommen sehen. Allerdings wundert es nicht, dass ein Buch, das die Kurzfassung eines anderen Buches ist, diese Erweiterung nicht bieten kann.
Trueman ist auch in diesem Buch nicht blind für die Gefahren von rechts, wenngleich sein Fokus auf den Einflüssen linker Ideologien liegt. Inwiefern gerade viele Christen von der postmodernen Welle von rechts überrollt wurden und das Postfaktische und der Ultrarelativismus sie von rechts eingeholt haben, hätte aber m. E. nach wie vor mehr Aufmerksamkeit verdient. Er begeht gottseidank nicht den Fehler, den so viele Christen und Apologeten in ihrem Kampf gegen den Zeitgeist begangen haben und noch begehen, nämlich – biblisch gesprochen – Fleisch zu ihrem Arm zu machen (vgl. Jer 17,5) und Schützenhilfe bei der politischen Rechten zu suchen. Er warnt davor, einen Kulturkampf zu führen. Stattdessen rät er, sich die Christen des zweiten Jahrhunderts zum Vorbild zu nehmen, als der christliche Glaube ebenfalls als Bedrohung wahrgenommen wurde und Christen eine marginalisierte Glaubensgemeinschaft darstellten: Sie waren gute Staatsbürger, solange dies der Treue zu Jesus Christus keinen Abbruch tat. Und aus dieser Perspektive stellt sich die Misere sogar als Chance dar: sich daran zu erinnern, dass Christen Fremdbürger sind. „Kulturprotest“ sei legitim, solle aber wie bei den antiken Christen respektvoll geschehen. Er schlägt einen Weg jenseits von direkter kulturkämpferischer Konfrontation, aber auch jenseits von quietistischem Rückzug, bei dem man gar nicht erst um einen Bezug zwischen den eigenen Überzeugungen und der Gegenwart ringt, vor.
Ideengeschichte muss sich immer beschränken. Es freut mich, dass in dieser Ausgabe die deutschen Romantiker zumindest Erwähnung finden; der Einfluss der Jenaer Idealisten und Romantiker, v. a. Fichtes, auf das modere Selbst kann m. E. nicht überschätzt werden. Allerdings hätten mich weitere Einflussfaktoren interessiert, die für das Schleifen des Wahrheitsbegriffs verantwortlich gemacht werden können, insbesondere der Strukturalismus und Poststrukturalismus, infolgedessen auch die Begriffe des Guten und Schönen Schaden genommen haben.
Fazit:
Es geht in dem Buch um nichts weniger als die „Abschaffung des Menschen“, um es mit einem Titel von C. S. Lewis zu sagen. Truemans Analyse auch in der Kurzfassung führt schonungslos vor Augen, wohin die Gottvergessenheit unserer Zeit geführt hat: ins völlige Chaos, wo sogar die grundlegenste aller Zweiheiten, die zwischen männlich und weiblich, aufgehoben wird. Der Mensch droht auf die Ebene eines stummen, geistlosen Tieres herabzusinken, ihm fehlt jeglicher ethischer Kompass. Mit anderen Worten: Es steht ernst um unsere Welt, denn in einer Welt ohne Gott gibt es keinen Grund für Moral mehr und ist tatsächlich alles gleich gültig und daher gleichgültig, gibt es keinen nennenswerten Unterschied zwischen Mutter Theresa und Adolf Hitler.
Die Stunde von Nietzsches „tollem Menschen“ hat geschlagen, so der Befund von Trueman. Trueman fokussiert den Bereich der Sexualethik. Die ethische Orientierungslosigkeit ließe sich ohne weiteres auch auf anderen Gebieten feststellen, etwa wenn Postkolonialisten und Antirassisten, die i. d. R. mit Moral nicht sparsam sind, zu keiner angemessenen Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel finden oder wenn Menschen Schwierigkeiten haben, in Bezug auf den russischen Angriffskrieg deutlich zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden. Auch das sind Ausprägungen des Subjektivismus und Symptome dafür, dass uns der ordo amoris abhandengekommen ist. Die lässt übrigens auch vermissen, wer das furchtbare Leid der konkret vom Terror betroffenen Menschen überspringt und sich ausschließlich auf abstrakte prophetische Deutungen des Zeitgeschehens verlegt.
Ulrich Parzany schreibt in einem der beiden Vorworte treffend, dass wie der Fisch nicht an das Wasser denkt, in dem er schwimmt, auch Christen sich oft gar nicht ihres postmodernen Mindsets bewusst sind. Truemans Buch sensibilisiert dafür, wo auch wir Christen in den Zeitgeist verstrickt sind. Für solche unter uns, die dem Zeitgeist zu widersprechen wagen, werden die Zeiten herausfordernd werden. Wer sich dafür wappnen will, sollten zumindest die Kurzfassung von Truemans brillanter Analyse lesen.
01.01.24 06:28 | Jochen
Sehr empfehlenswerte Kulturanalyse
Carl R. Trueman ist Professor für Bibel- und Religionswissenschaften am Grove City College in Pennsylvania (USA) und Autor zahlreicher Bücher. 2020 erschien von ihm das Buch "Der Siegeszug des modernen Selbst" (auf deutsch 2022, ausführliche Rezension unter www.denkendglauben.de). Über das Ziel dieses Buches schreibt er: „Meine Aufgabe sehe ich darin, die tiefen geschichtlichen Wurzeln der Vorstellung aufzuzeigen, die heute das bewusste und unbewusste intuitive Denken der Menschen im Westen prägen und eine Erklärung dafür liefern, warum die Gesellschaft so denkt und handelt, wie sie es tut … Ich will also in erster Linie den geistesgeschichtlichen Hintergrund der modernen Revolution des Selbst dokumentieren und deutlich machen, dass die Ideen von Schlüsselpersonen, die vor langer Zeit gelebt haben, unsere Kultur auf allen Ebenen durchdrungen haben. Das fängt auf den Fluren akademischer Institutionen an und geht bis hin zum allgemeinen Lebensgefühl der Menschen.“
Dieses Buch nun ist ziemlich komplex und auch manchmal recht kompliziert. So bat ihn ein Freund, eine kürzere, verständlichere Version mit den grundlegenden Argumenten für Nicht-Fachleute zu schreiben. Diese erschien 2022 auf Englisch und kürzlich auf Deutsch unter dem Titel "Fremde neue Welt. Wie Philosophen und Aktivisten Identität umdefiniert und die sexuelle Revolution entfacht haben". Trueman betont: Dieses „Buch ist keine präzise Zusammenfassung meines dickeren Buches Der Siegeszug des modernen Selbst, sondern beschäftigt sich mit dem gleichen Thema auf kürzere und (hoffentlich) zugänglichere Weise“. Dies kann man als Leser bestätigen. Die Gedanken werden zumeist weniger komplex ausgedrückt und es gibt auch mehr explizit erklärende Formulierungen als bei dem anderen Buch. Inhaltlich beginnt er bei Descartes, zieht die Linie über Rousseau, die Romantik, Hegel, Marx, Nietzsche, Freud, Wilhelm Reich und Herbert Marcuse. Er zeigt, wie der Siegeszug des expressiven Ichs vom Denken zum Gefühl geht und wie das Fühlen von der Sexualität be-stimmt wird. Wie das umfangreichere Werk, setzt nun auch dieses historische und geistesgeschichtliche Kenntnisse, auch die solcher Begriffe und Konzepte, voraus. So ist die Empfehlung auch hier für an solchen Fragestellungen Interessierte und unbedingt für Studenten der Geisteswissenschaften. Ein Mangel besteht wie auch in dem anderen Band darin, dass in der Übersetzung der Konjunktiv zu wenig benutzt wird. Das hat zur Folge, dass diejenigen, die nicht so vertraut mit dem Thema sind, bei manchen Passagen zweifeln können, ob das nun die Position des Autors oder die, die er (kritisch) referiert, ist. Wenn auch im großen Zusammenhang die Botschaften klar werden, wäre es eine Hilfe, die entsprechenden Passagen klarer sprachlich zu markieren.
Das Kapitel „Fremde in einer fremden neuen Welt“ rundet das Werk ab. Es folgen ein Glossar und Endnoten mit Literaturangaben. Im letzten Kapitel werden biblische Hilfen für ein Leben in diesen Umständen formuliert. Diese sind weitgehend bedenkenswert, wobei man sich nicht allen anschließen muss. Es wir auch deutlich gemacht, dass diese Welt nicht die Heimat des Christen ist, weshalb wir auch keine heimatlichen Annehmlichkeiten erwarten dürfen. Als Schlüssel für die Existenz des Menschen wird Tod, Auferstehung und Wiederkunft des Herrn Jesus Christus formuliert. Und unter dieser Perspektive können wir auch in dieser „fremden neuen Welt“ gut bestehen.
Somit kann auch dieses Buch empfohlen werden und dessen Lektüre nach dem Vor-gängerband lohnt sich ebenfalls.
Jochen Klein / mehr Rezensionen unter www.denkendglauben.de
05.12.23 20:36 | Henrik
Verstehe die Veränderung
Dass die Welt, in der wir leben, kompliziert ist, ist wohl den allermeisten klar. In „Fremde neue Welt“ zeigt Carl R. Trueman auf, wie Philosophen und Aktivisten Identität umdefinieren, wodurch die erneute sexuelle Revolution entfacht wurde.
Wer ist der Autor?
Carl Trueman ist Professor für Biblische und Religiöse Studien am Grove City College (USA). Er ist freier Redakteur bei First Things, ein geschätzter Kirchenhistoriker und arbeitet als Wissenschaftler am Ethics and Public Policy Center. Trueman hat zahlreiche Bücher verfasst oder herausgegeben.
Worum geht es in dem Buch?
Angeregt von seinem Freund Ryan T. Anderson hat Trueman dieses Werk verfasst. Es basiert dabei auf seinem ersten Buch „Der Siegeszug des modernen Selbst“, wobei es keine präzise Zusammenfassung dessen darstellt. Vielmehr beschäftigt sich der Autor erneut mit dem gleichen Thema, jedoch auf eine kompaktere und zugänglichere Weise.
Erneut spürt der Verfasser den Fragen nach, wie die „Person“ zum „Selbst“ wurde und wie dieses „Selbst“ sich dann sexualisiert hat, sodass heute Sex politisiert wurde. Hierzu ist besonders das erste Kapitel von grundlegender Bedeutung, da Trueman die philosophischen Wurzeln skizziert und verständlich darlegt.
In den weiteren Kapiteln beginnt er Stück für Stück seine Sicht der Entwicklung darzulegen, wobei er klarmacht, dass Sexualität heute keine moralische Frage mehr ist. Vielmehr geht es um die Identität des Menschen, also um die Frage: Wer bin ich? „Wenn die innere Identität des Einzelnen im sexuellen Begehren begründet liegt, dann muss er oder sie dieses Begehren ausleben dürfen, um authentisch sein zu können.“
Schlussendlich wird der Leser feststellen, dass er in einer Welt lebt, dem das Ausleben des christlichen Glaubens immer stärkerer Gegenwind entgegenweht. „Die Zeit geht zu Ende, in der Christen von den Überzeugungen der säkularen Welt abweichen konnten und dennoch als anständige Mitglieder der Gesellschaft respektiert wurden.“
Wer sollte das Buch lesen?
Die Lektüre sei jedem ans Herz gelegt – ob Christ oder nicht -, der verstehen möchte, weshalb es zu rapiden Veränderungen in unserer Gesellschaft gekommen ist. Das Werk versteht sich als Leitfaden, dem eine solide Anthropologie und eine gesunde Kultur am Herzen liegen. „Identität wird durch Gemeinschaft geformt, der wir angehören“.
Weshalb sollte man das Buch lesen?
Die sexuelle Revolution unserer Tage ist durch eine Veränderung im Denken über das Selbst und eine Überbetonung des expressiven Individualismus gefördert worden, weshalb das soziale Vorstellungsschema uns prägt. Trueman gelingt es eine rote Linie zu skizzieren, anhand derer der Leser nachvollziehen kann, weshalb Sexualität keine Privatsache, sondern politische Ideologie und v.a. identitätsstiftend geworden ist. Doch bleibt er nicht nur bei der Analyse stehen, sondern gibt der Kirche des 21. Jahrhunderts auch Anregungen mit, um sich in einer immer chaotischer werdenden Welt, an dem festzuhalten, der die Welt überwunden hat: Jesus Christus. „Das mächtigste Zeugnis für das Evangelium ist die Kirche selbst, wenn sie einfach ihre Gottesdienste hält und Gott anbetet.“